Verkehrspolitik und Deutschlandticket – eine Betrachtung der Wirklichkeit

Ein Kommentar von Rüdiger Sterzenbach

Schon der frühere SPD-Parteivorsitzende Kurt Schumacher wusste: „Gute Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch: Schlechte Politik beginnt mit dem Negieren der Wirklichkeit.

Es ist in der Tat faszinierend zu beobachten, dass nicht nur gelegentlich zwischen der politischen Rhetorik und der Realität große Brüche bestehen. Nach Hannah Arendt gehört die Wahrhaftigkeit nicht zwangsläufig zu den politischen Tugenden, nach ihrer Auffassung stehen Politiker mit der Wahrheit eher „auf Kriegsfuß“. Die Idee, dass Politiker sich immer dem Wohl des Volkes verpflichtet fühlen, ist edel, aber es ist auch klug, ihre Worte mit ihren Taten abzugleichen, um ein vollständigeres Bild zu erhalten. Daher ist es wichtig, kritisch zu hinterfragen und Fakten zu überprüfen.

Die Funktionen von Verbänden und Lobbyisten umfassen in der modernen Gesellschaft insbesondere die Aggregation, Selektion, Artikulation und Integration politischer Interessen. Sie bündeln unter anderem die gesellschaftlichen Erwartungen, Forderungen und Wünsche ihrer Mitglieder und vertreten diese gegenüber dem politischen Entscheidungssystem. Ruft man sich diesen Tatbestand in Erinnerung, ist besonders dann Wachsamkeit und ein kritisches Hinterfragen der Aussagen geboten, wenn Verbände in ihrem Handeln und Streben plakativ das Wohl des Volkes in den Vordergrund ihrer Forderungen stellen. Bei einer Überprüfung der Aktivitäten von Verbänden und Lobbyisten fällt auf, dass die Wahrheit gelegentlich auch etwas „gedehnt“ wird.

Wir alle überlegen uns in unserem täglichen Handeln - mehr oder minder bewusst -, wie wir ein bestimmtes Ziel mit einem möglich geringen Aufwand (Sparsamkeitsprinzip), oder wie wir mit einem gegebenen Mitteleinsatz so viel wie möglich erreichen können (Maximalprinzip). In der Wirtschaft ist dieses Verhalten als Rationalprinzip, auch ökonomisches Prinzip oder Wirtschaftlichkeitsprinzip, bekannt. In seiner allgemeinen Form wird es gerne als Grundsatz eines insgesamt vernunftgeleiteten Handelns von Menschen verstanden. Aus wissenschaftlicher Sicht gilt bei der Entscheidungsfindung der unumstößliche und grundlegende Satz aus der Entscheidungstheorie: „Ein Ziel ist ein Kriterium anhand dessen die Konsequenzen der verfügbaren Alternativen prognostiziert werden können.“ In einer verständlicheren Fassung allgemein formuliert: Wenn man gute Entscheidungen treffen will, muss man sich zuerst einmal über das Ziel im Klaren sein, das es zu erreichen gilt. Mögliche Handlungsalternativen, die zur Erreichung des Ziels zur Verfügung stehen, sind unter dem Gesichtspunkt und Kriterium ihrer möglichen Zielerreichung zu bewerten und auszuwählen: Inwieweit trägt die Alternative – das gewählte Mittel - zur gewünschten Zielerreichung bei?

Aus dem Vorstehenden ergibt sich: Wenn wir die heutige Verkehrspolitik und hier insbesondere das Deutschlandticket als Erfolg oder Misserfolg bewerten wollen, stellt sich zunächst die Frage: Was will und was wollte man in der Verkehrspolitik mit dem Deutschlandticket erreichen? Es ist eindeutig und unstrittig und überall nachzulesen: Die heutige Verkehrspolitik will und wollte mit dem Deutschlandticket zum Preis von 49 EUR insbesondere eine Verkehrswende im Sinne einer Verlagerung des Straßenverkehrs auf umweltfreundlichere öffentliche Verkehrsmittel und eine finanzielle Entlastung der Bürger erreichen. Ob das Deutschlandticket ein Erfolg oder Misserfolg ist, ist somit nur mit dem Maßstab der Erreichung dieser Ziele zu bewerten.

Nach einem Jahr Deutschlandticket ist von den Propagandisten des Tickets Folgendes zu lesen: Der Bundesverkehrsminister: „Ein Jahr Deutschlandticket. Es ist die größte Revolution des ÖPNV seit Jahrzehnten“; ein parlamentarischer Staatssekretär: “Das Deutschlandticket ist ein Gamechanger für Deutschlands Mobilität“; der gleiche Staatssekretär als Bahnbeauftragter „… hält den Fahrschein für einen vollen Erfolg“. Ein Lobbyverband: „Das Deutschlandticket ist ein Jahr nach seiner Einführung ein Riesenfortschritt für die Fahrgäste des Öffentlichen Verkehrs“. „Das Deutschlandticket ist ein Meilenstein für den Öffentlichen Nahverkehr“; ein weiterer Lobbyverband: „Das Deutschlandticket ist ein echter Klimaschutz-Hero“. Der ÖPNV-Geschäftsführer bei einem Branchenverband: „…. wir wollen das Deutschlandticket zum dauerhaften Erfolg…“; Der gleiche Verband: „Ein Jahr Deutschland-Ticket – auf der Nachfrageseite ein Erfolg, auf der Einnahmenseite nicht“.

Hingegen bilanzieren die unabhängige Presse, unabhängige Institutionen wie insbesondere das Fraunhofer ISI „Mobikult“, der Deutsche Städte- und Gemeindebund sowie weitere Stimmen nach einem Jahr Deutschlandticket so: „Das Deutschlandticket ist ein teurer Flop – 92 % der Deutschlandticket-Abonnenten haben schon vorher den ÖPNV benutzt“. „Die Revolution bleibt aus“; „ÖPNV - Wir machen derzeit den dritten Schritt vor dem ersten“ – verbunden mit der Forderung nach der Schrittfolge: „Sicherung des bestehenden ÖPNV- Angebots – Ausbau des bestehenden ÖPNV- Angebots – Deutschlandticket“; „D-Ticket im ländlichen Raum nur 6% (Städte 20-30%)“. Zudem: „Entscheidend für eine langfristig nachhaltigere Mobilität, die den Bedürfnissen und Anforderungen der Menschen gerecht wird, sei jedoch „die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit des ÖPNV sowohl in der Stadt als auch der Vorstadt und auf dem Land zu erhöhen“; Geburtstag Deutschlandticket -„doch beim Blick auf das ÖPNV-Angebot im ländlichen Raum ist die Feierlaune schnell verflogen“; „Das Deutschlandticket erreicht nur 7 % Neukunden. Dafür geben wir vier Milliarden Euro im Jahr aus, während die Gesamtforderung des Betriebes des ÖPNV in Deutschland mit den Regionalisierungsmitteln bei etwa neun Milliarden Euro liegt“; „Die Politik dachte, das Deutschlandticket sei Freibier, so wie zuvor das 9-Euro-Ticket “. „Wir brauchen jetzt zum Deutschland-Ticket das Deutschland-Angebot. Aktuell gibt es 150 Sonderregelungen in Deutschland“; Der Präsident des VDV: Mit dem Ticket sei es nicht gelungen, „wirklich einen Beitrag dazu zu leisten, mehr Menschen vom Auto auf den ÖPNV zu holen“.

Unter Abwägung der vorstehenden Ausführungen bleibt es dem Leser überlassen, sich selbst ein Urteil zu bilden und der Frage nachzugehen: Zählt die Wahrhaftigkeit auch im vorliegenden Fall zu den politischen Tugenden der Protagonisten des Deutschlandtickets und der jetzigen Verkehrspolitik oder stehen die Protagonisten des Tickets mit der Wahrheit eher „auf Kriegsfuß“?

Rufen wir uns Erinnerung – bereits kurz vor der Einführung des Deutschlandtickets schrieb dieser Autor gemeinsam mit Prof. Dr. Frank Fichert in der FAZ unter der Überschrift „Der Irrweg ÖNNV-Flatrate“ (Auszüge): „Die Ursachen für diese klimapolitische Zielverfehlung lassen sich leicht benennen. Insbesondere bei regelmäßig zurückgelegten Wegen, also etwa zur Arbeitsstätte, ist nicht vornehmlich der Preis, sondern die Angebotsqualität für die Verkehrsmittelwahl entscheidend. Konkret geht es um die Gesamtreisezeit (von Haustür zu Haustür) – in Verbindung mit Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, dem Beförderungskomfort und nicht zuletzt auch der subjektiv empfundenen Sicherheit in Verkehrsmitteln und Stationen. Eine Verlagerung hin zum ÖPNV erfolgt also nur, wenn zum Beispiel die Takte enger und die Umsteigevorgänge sowohl kürzer als auch verlässlicher werden. Dies erfordert eine Angebotsausweitung und oftmals auch ein besseres Netzmanagement. Niemand dürfte sich daher beispielsweise darüber wundern, dass das 9-Euro-Ticket in ländlichen Räumen mit schlechtem ÖPNV-Angebot weitestgehend ein Ladenhüter blieb. Vor diesem Hintergrund war das 9-Euro-Ticket ein sehr teurer „Feldversuch“ (Verkehrsminister Wissing), der im Wesentlichen bestätigte, was ohnehin in jedem Lehrbuch zu lesen ist.“

„Politökonomisch lässt sich die Expansion der ÖPNV-Administration - mit ihren vielfach kaum durchschaubaren Strukturen und hochgradig intransparenten Finanzierungsströmen - aufgrund der Eigeninteressen von Politikern und Bürokraten leicht erklären. Wenn man nun einfach nur mehr Geld in dieses System pumpt, so wird sicherlich auch das Angebot ausgebaut werden, die vielfältigen Fehlanreize bestehen jedoch fort und die Verlagerungswirkung bleibt gering. Das Deutschlandticket wird – je nach Ausgestaltung der Mittelzuweisung - die Kundenorientierung der öffentlichen Anbieter und Behörden sogar eher weiter schwächen.

Vorteile bringt das Deutschlandticket wiederum für viele Zeitkartenbesitzer – und zwar insbesondere in den Regionen, in denen bislang ein relativ hoher Grad an Nutzerfinanzierung erreicht wurde, sodass die Tarifsenkung besonders deutlich ausfällt. Sicherlich wird es auch einen gewissen Anstieg der Nutzerzahlen geben, wobei davor zu warnen ist, sich auf die Ergebnisse von Umfragen zu verlassen, in denen hypothetisch und unverbindlich nach Kaufabsichten gefragt wird.

Bereits jetzt werden Stimmen laut, die das Deutschlandticket entweder insgesamt oder zumindest für bestimmte Nutzergruppen (einkommensschwache Menschen) als zu teuer erachten. Spätestens vor der nächsten Bundestagswahl ist daher analog zum politischen „Überbietungswettbewerb“ beim Mindestlohn ein „Unterbietungswettbewerb“ beim Preis des Deutschlandtickets zu erwarten. Am Ende eines solchen Prozesses stünde konsequenterweise ein allgemeiner Nulltarif nach Luxemburger Vorbild. Der ÖPNV wäre dann von Zahl und Zahlungsbereitschaft der Nutzer vollkommen entkoppelt und zugleich einem maximalen Staatseinfluss unterworfen“.

Auch hat der Verfasser bereits an anderer Stelle festgestellt: „Eine grundlegende Verkehrswende findet definitiv nicht über Tarife statt. Wenn man merkt, dass man mit den eigens geschaffenen Marketingbegriffen wie “Tarifrevolution“, „Klimaticket und Umweltticket“ auf dem Holzweg ist, ändert man einfach die Strategie. In der Hoffnung auf Empörungsreflexe gibt man sich nunmehr als Schutzpatron einer finanziellen Entlastung der Bürger aus. Es wird darüber hinweggesehen, dass das nach dem Gießkannenprinzip vergünstigte Ticket vielfach auch eine finanzielle Umverteilung der Einkommen von unten nach oben bewirkt. Fakten verformende Lobbyisten versuchen nicht selten die Verkaufszahlen des Tickets als Beweis für eine gelungene Verkehrswende auszugeben und hoffen dabei auf Unterstützung einiger leichtgläubiger, ahnungsloser und manchmal allerdings auch böswilliger Politiker.

Die fundamentale Notwendigkeit, unter den möglichen Maßnahmen zur Verkehrswende diejenige anzuwenden, die am günstigsten ist und die den größten Erfolg verspricht, wird bisher weitgehend verhindert. Einfach einen kundengerechten ÖPNV zu gestalten, heißt Überflüssiges wegzulassen und auf teuren Schnickschnack zu verzichten.

Grundlegend und bei aller bekannten Problematik: Die externen Umweltkosten des Verkehrs sind – will man tatsächlich die Verkehrswende – nicht mehr länger auf die Allgemeinheit abzuwälzen, sondern in einem ersten Schritt den sie verursachenden Verkehrsträgern anzulasten.

Die Politik hat sich auf die Setzung der wettbewerblichen Rahmenbedingungen zu beschränken und dabei bisherige Wettbewerbsbeschränkungen und -verzerrungen abzubauen“.

Diese Bewertung ist auch ein Jahr nach Einführung des Deutschlandtickets angesichts der aktuellen Ergebnisse weiterhin gültig. Weder wurde das postulierte Ziel einer Verkehrsverlagerung erreicht, noch wurden bestehende Finanzierungs- und Organisationsstrukturen mit der Einführung eines deutschlandweiten Einheitstickets aufgebrochen – vielmehr fehlt bei unveränderter Komplexität nun der monetäre Beitrag der Nutzer zum Ausbau des Angebots und schauen alle Akteure im System mehr denn je auf die Entwicklung der staatlichen Finanzierung. Lähmung statt Aufbruch: Das ist das Zwischenfazit zum ersten Geburtstag des Deutschlandtickets.

Zum Autor:

Rüdiger Sterzenbach (geboren 1946) studierte Volkswirtschaftslehre in Marburg. Er war von 1977 bis 2012 Professor für Volkswirtschaftslehre und zudem Volks- und Betriebswirtschaftslehre des Personenverkehres an der Hochschule Heilbronn sowie parallel bis 2006 Mitgesellschafter der SZ-Verkehrsbetriebe. Im Ehrenamt war Sterzenbach zudem Vorsitzender der Ständigen Konferenz der Landessportbünde und Präsident des Landessportbundes in Rheinland-Pfalz sowie wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU Rheinland-Pfalz.

Seine jahrzehntelange Erfahrung und Expertise bringt er bis heute in politische und ökonomische Veröffentlichungen zum ÖPNV und zum Luftverkehr ein. Gemeinsam mit Professor Frank Fichert arbeitet er derzeit an einer Buchveröffentlichung und einer anschließenden Konferenz, die aktuelle Diskussionen, Entwicklungen und politische Handlungsoptionen aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive zusammenträgt und vor dem Hintergrund verkehrsökonomischer Grundlagen einordnet und kritisch würdigt. Weitere Beiträge von Rüdiger Sterzenbach sind auf seiner Website https://ruediger-sterzenbach.de zu finden.

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